Der erste 100 km Gleitschirmflug
des Jahres 2023 in den Alpen
Christopher Fromm
09. Februar 2023
„Nur noch geradeaus fliegen und der erste 100 km Flug ist erreicht“.
Der Gedanke erfüllte mich am 07.02.2023 mit Stolz. Nach lehrreichen, wunderschönen und etwas kalten 5 Stunden gelang es mir, fast vor der Haustüre zu landen und sprang rasch unter die heisse Dusche.
Die Vorbereitung
Am Vortag sah die Prognose aus meiner Interpretation sehr gut für Februar aus. Durch die vorherige Nord/Nordost Lage war die Luft im Süden kälter als die im Norden. Infolgedessen hat sich eine seichte Südföhnlage eingestellt. Das Spannende war, dass der Südwind im Tagesverlauf abnehmen sollte. Der durch die Südlagen entstehende Ostwind ist Rückenwind für den Flug Richtung Westen (Link zu einem spannenden Artikel). Zudem ist bei Südlagen die Thermik erfahrungsgemäss besser als die Prognose vorhersagt. Previtemp sah nicht überragend aussah, war aber relativ gut für einen 50 km Flug. Ich schätzte die Wahrscheinlichkeit dafür auf 90%.
Noch am Morgen habe ich mir die Prognose nochmals angeschaut und gesehen, dass es schon einen frühen Thermik Start ermöglichte. Somit haben mein Flugkollege Roger und ich uns eine Stunde früher getroffen, als am Vortag ausgemacht. Dies ist der Vorteil wenn man in unmittelbarer Nähe des Fluggebietes wohnt. Man kann so kurzfristig Pläne ändern, die Chancen wahrnehmen und opportunistisch denken.. Give it a try!
burnair Prognosen
(Thermik, Previtemp Fiesch, 10m Wind)
Los gehts
Als ich mit Roger am Startplatz stand und eine Dohle ganz wenige Meter neben uns kunstvoll zeigte wie man fliegt, war die Vorfreude schon sehr gross. Wir schwangen uns mit einem guten Gefühl in die Lüfte und um kurz vor 11 Uhr ging es schon mit guten Steigwerten hoch in den Himmel. Schnell umschalten auf Racemode, war nach der Winterpause doch einfacher als erwartet. Gleich in das Halbgas nach der ersten Thermik. Zügig hat Roger auch nachgezogen und wir flogen bis zur Riederalp gemeinsam. Der Ostwind war jetzt deutlicher zu spüren, was man auch im Versatz der Thermik des Screenshots gut sieht. Hier trennten sich unsere Wege und Roger flog wieder zurück Richtung Fiescheralp. Kurz vor der Querung Richtung Westen ist mir der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass heute durchaus 100 km möglich sind und somit der Erste in dieser Saison zu sein, der diese Distanz erreichen kann.
Ich muss schon zugeben, dass ich eine ehrgeizige Ader habe und der Gedanke für mich sehr fokussierend und motivierend war.
Windversatz im burnair 3D IGC Viewer
Der Crosscheck
Bei der Querung hatte ich Zeit mir Informationen einzuholen und meinen weiteren Flugweg zu planen. Sofort habe ich die Live-Wind Werte gecheckt (Hier habe ich leider keinen Screenshot). Visp auf 650 m hatte im Tal 20/30 km/h, Jeizinen auf 1.500 m 10/15 km/h und Crans Montana auf 2.600 m 30/40 km/h Ostwind. Ich habe zu dem Zeitpunkt erst realisiert, dass die TMA Sion aktiv ist und ich gut pushen musste, um in der Mittagspause des Flughafens zwischen 12:05-13:15 Uhr durch den inaktiven Luftraum fliegen zu können. Die sportlichen Bedingungen am Riederhorn haben mir zu denken gegeben, ob diese mich mit meinem neuen Zweileiner etwas überfordern könnten. Im Kopf bin ich kurz meine neue Checkliste von ONEDAY durchgegangen. Zum Glück hatte ich diese den Tag vorher gerade auswendig gelernt.
1. „Glück ist wenn Vorbereitung auf Gelegenheit trifft”Seneca
Dieser Satz hat mir ein gutes Gefühl gegeben. Ich war am richtigen Ort für mein Ziel!
2. Energie und Vitalität hoch halten
Im Zuge dessen habe ich zu meinem Trinkschlauch gegriffen, wo ich an meiner Kohlenhydratpulver Mischung nuckelte, während ich weiter nachdenken konnte.
3. Am richtigen Ort sein ist wichtiger als das Richtige zu machen
Ich habe mir die Leezonen vom Ostwind nochmals auf der Flugroute Richtung Leuk genau vorgestellt, um die “no flying Zones” sauber zu visualisieren.
4. Maximaler Traum als Vision und ein minimal Success Index (MSI) als “gut genug” mit sich selbst abmachen
Das Glück liegt dazwischen
Der Satz hat mir den Druck genommen, den ich mir vorher mit meinem eigenen Ziel, die 100 km fliegen zu wollen aufgebaut habe.
Der MSI war dann für mich sicher und genussvoll zu fliegen.
5. Einen Plan B haben
Für mich war klar, dass ich im Tal gute Landemöglichkeiten im laminaren Ostwind habe.
6. Chancen und Risikomanagement im Gleichgewicht?
Nichts falsch machen reicht nicht weit und nur best case denken ist gefährlich
Hier ist für mich die Schlussfolgerung entstanden, von Rippe zu Rippe zu fliegen und immer wieder neu zu entscheiden “weiter, zurück oder landen?” immer mit dem Abgleich der Live-Windwerte.
Zudem musste ich auch nochmal die Wetterprognose anschauen, um mich gedanklich zu versichern, dass der Wind im Tagesverlauf wirklich nachlässt.
7. Grossartige Flüge ermöglichen dir, weiter zu kommen als du dir es am Startplatz vorstellen kannst. Bleibe neugierig…
Hier konnte ich nochmal richtig emotionale Energie tanken.
Werkzeuge für den Weiterflug
Download-Link des Bildes
Mit Genehmigung von ONEDAY
Die Entspannung
Währenddessen habe ich ganz in Gedanken meine 1,5 l ausgetrunken und wusste, dass ich bald noch mit etwas anderem beschäftigt sein werde. Der Vorteil war, dass mir während dem Flug zwischen -5 und -10 Grad mein Getränk nicht mehr einfrieren wird.
Mit einer frischen Taktik im Kopf ging es Thermik für Thermik relativ sportlich weiter. Der Zeolite und ich haben uns schneller als erwartet kennengelernt. Ich bin einfach nur begeistert von diesem Schirm! Rippe für Rippe konnte ich immer mehr Mut für mein Projekt fassen und fokussierte mich nur auf das effiziente und sichere Fliegen, auch wenn der eine oder andere Kreis einem riesigen Adler, drei Jungadlern und einem Bartgeier gewidmet werden musste. Immer wieder versinkt man in Demut vor diesen wunderschönen Geschöpfen mit ihrer flugtechnischen Präzision und Eleganz.
Luftraum und Rückflug
Wie schon gesagt, war der Plan, in der Mittagspause durch die inaktive TMA Sion zu fliegen. Durch die starken Thermiken, die bis zu 3 m/s integriert und einzeln bis zu 6,5 m/s angerissen haben, ging es gut voran. Bei Leuk habe ich gedreht und hatte dann auch keinen Gegenwind mehr. Laut Prognose sollte ich um 13 Uhr noch Gegenwind haben. Zu meinem Glück hat der Wind schon früher nachgelassen. Unten nach dem Text dazu mehr.
Die Thermik wurde immer zuverlässiger und das Streckenfeeling war richtig schön. Gezielt anfliegen, hochbeamen lassen und weiter eine gute Linie finden.
Jetzt ging es fast gratis. Als ich wieder über dem Startplatz der Fiescheralp war, musste ich noch 12 km in das Goms hoch und zurück fliegen, um mein Ziel zu erreichen. Das XCtrack ist eine grosse Hilfe, um die km automatisch berechnen zu lassen. Die Südhänge des Goms waren nicht mehr im idealen Einfallswinkel der Sonne, aber es ging weiterhin erstaunlich gut mit 1-3 m/s integriert vorwärts. Die Vorfreude stieg und stieg.
Wind 2000m
Wind 3000m
Die Übermotivation bekämpfen
Plötzlich wollte der Ehrgeiz in mir noch weiter als 100 km fliegen. Rasch wurde der Übermut besänftigt, als auf meinem XCtrack stand “unfertiges Dreieck 103 km”. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Somit habe ich umgedreht und konnte wieder in Richtung Fiesch fliegen. Als ich die letzte Thermik ausdrehte und wusste, dass ich im Gleitflug das Ziel erreichen werde. Sicher habe ich die Gämsen mit meinem Freudenschrei etwas erschreckt. Nach der finalen Querung durfte ich sogar noch am Startplatz vorbeifliegen und meinen Freunden zuwinken.
Leicht zitternd flog ich dann nach Hause, landete sanft und mich erwartete eine heisse Dusche, um mich wieder aufzuwärmen. Ich bin sehr dankbar, dass ich diesen frühen Streckentag erleben durfte.
Messages an mich selbst
Fliege den Tag nicht die Prognose
Bleib neugierig…
Lufträume und NOTAM vorab checken
Den Best Case vorab komplett in Ruhe planen – um somit mehr Kapazität für den Flug zu haben.
Sorgen und Ängste ernst nehmen
Hier eine neue Methode finden – nicht nur mit Objektiven Checklisten relativieren
Übermut kommt vor dem Fall
Ein häufiges Phänomen von mir, wenn es zu gut läuft möchte ich immer noch mehr.
Risikomanagement Tools besser anwenden
Der Helikopter Blick hätte wahrscheinlich geholfen. Auch die Methode „Was, wie, warum“ von ONEDAY hätte mich weiter gebracht (siehe Bild Werkzeuge für den Weiterflug)
Stolz sein
Etwas Eigenlob für die gute Interpretation der Prognose und des Erfahrungsschatzes
ONEDAY Methoden
Sind für mich jetzt die neue Macht im Kopf
Expeditionsanzug kaufen
für die langen Flüge im März-Mai
Hintergrund Informationen
Diesmal habe ich die 4D Streckenprognose nicht als Plannungstool benutzt, sondern als Debriefing Tool, um den Wind in Echt mit dem prognostizierten Wind zu vergleichen.
Das ICON-D2 Modell hat den Wind eine Stunde lang zu pessimistisch, also zu stark prognostiziert.